Kultur sucht Konzept
Es gab eine Zeit, da war die Kultur kopf- und konzeptlos. Kultur war eben einfach da, wo Kultur war. Es galt das Gießkannenprinzip und wo zusätzlich gedüngt wurde, wuchsen Leuchttürme – oder umgekehrt. Jede Stadt hatte Künstler und Kulturfunktionäre.
Die einen fühlten sich berufen, Kunst zu produzieren und die anderen dazu, sie zu organisieren. Die Organisatoren organisierten Ausstellungen, Theateraufführungen, engagierten Künstler, inszenierten Literaturprogramme, Vorlesungen, Konzertreihen, Filmfestivals, Sehschulen, Musikschulen, Geschichtslehrgänge, Kunstpfade, schulische und vorschulische Bildung und noch vieles mehr.
Es waren nicht immer ruhige Jahre, manchmal gab es Streit unter den Kulturproduzenten und den Kulturorganisatoren. Und weil jeder sich gleichermaßen unangemessen und ungerecht behandelt fühlte, schien es einigermaßen gerecht und angemessen zuzugehen.
Ein freundlicher Herr im Kulturamt nestelte hin und wieder in einem Kästchen, zauberte eine kleine Extra-Kulturspritze heraus, setzte sie an und ließ sie wirken. Manchmal gab es auch lange Diskussionen im Rat der Stadt, ob man wirklich mehr als ein Theater brauche, wie viel Geld Kunstmuseen verschlingen, was Musikschulen kosten dürfen und ob Filmfestivals unter städtisch-professionellen Führungskräften nicht besser geraten würden.
Doch in all dem Stimmengewirr hörte man immer häufiger einen Begriff: „Kulturkonzept!“ „Wir brauchen ein Kulturkonzept!“ hieß es von nun an.
Der Begriff war nicht neu. Auch anderswo war man auf ihn gekommen. Vor allem in Städten mittlerer Größe, da zimmerte und schraubte man schon eine Weile an Kulturkonzeptionen. Man war ungeheuer fleißig. Die Stadt Reutlingen schrieb ein 221 Seiten dickes hochgelobtes Kulturkonzept. Jena schaffte immerhin 70 Seiten; Eisenach arbeitete sich mit 225 Seiten in die Reutlinger Klasse vor, Eberswalde in Brandenburg hielt mit 70 Seiten dagegen. Alle diese Seiten sind im Internet zu finden. Da türmen sich Unmengen von Kulturkonzepten zu einem virtuellen Leuchtturm auf. Der strahlt so hell, weil er ein Kriterium perfekt erfüllt: Er ist durch und durch transparent. Eins nämlich wollen Kulturkonzepte ganz gewiss nicht sein: Machwerke der Willkür und des Günstlingsprinzips. Sie legen erbarmungslos alles offen, jeder kann sie jederzeit abrufen, diskutieren, anfechten und vielleicht noch schlimmere Dinge mit ihnen machen.
Googelt man „Kulturkonzeption“, erscheint Tübingen schon an fünfter Stelle und bietet sich mit 30 Seiten zur Schnellansicht an. Schön, dass auch mal jemand an den eiligen Kulturkonzeptionskonsumenten gedacht hat, freut man sich und beginnt begierig in den Seiten zu blättern. Der Blick gleitet über das Vorgeplänkel um „spartenübergreifende Empfehlungen“ mit „Kulturelle Bildung als alle Bereiche umfassender Schwerpunkt“ und „Migration / Integration als Querschnittsaufgabe“ hinweg und bleibt in Vorfreude auf Handfestes bei den „inhaltlichen Schwerpunkten“ hängen: „Literaturprofil stärken“, „Innovation fördern: Künstlerischer Tanz und Wissenschaft“, „Geschichtskultur gestalten“, „Kulturelle Bildung als Querschnitt in allen Bereichen ausbauen“, „Raum für Soziokultur/ Zivilgesellschaft/ freie Szene schaffen“ – der Blick verheddert sich im Ungefähren. Klingt gut, aber was ist gemeint? Und geht es hier um Himmels willen um Kultur, um den eigenwilligen und anregenden Ausdruck? Der Leser der Konzeption fühlt sich hinübergleiten in ein Niemandsland, wo Punkte und Spiegelstriche regieren und die Königin der Langeweile ihr gnadenloses Power-Point-Regiment führt.
Müssen Kulturkonzepte Aufmerksamkeitskiller sein? Müssen ihre Verfasser/innen so demonstrieren, dass sie sich nicht mit lebendiger Kultur gemeinmachen, dass sie eine andere, interdisziplinäre, interkulturelle, intergenerative und intersonstwie Querschnittssprache sprechen?
Dass sich vor diesem Hintergrund und mit diesen Worten empfiehlt, ein Literaturprofil wie Tübingen es hat, noch weiter zu stärken, das leuchtet unmittelbar ein. Auch der Begriff der „Innovation“ überzeugt spontan. Wer kann sich da verweigern?
Aber so einfach sollen es die Jasager nicht haben. Es geht nämlich um eine hochkomplizierte Innovation, eine aus Tanz und Wissenschaft. Handelt es sich um eine neue Art von Tanzseminar, vielleicht um getanzte Vorlesungen oder gar tanzende Institute? Weiter hinten ist zu lesen, man wolle „Künstlerischen Tanz mit Wissenschaft verknüpfen (Universität)“ und dass man Räume, ein „Kulturnetz Tanz“, ein „internationales Netzwerk“ brauche und dass Tanz ins öffentliche Bildungssystem eingebunden werden solle, und dann steht da noch der rätselhafte Zusatz, dass künstlerischer Tanz „kein Sport“ sei.
Möglicherweise würde der unbedarfte Leser von allem mehr verstehen, wenn er das InzTanz-Festival im letzten Sommer besucht hätte, das aus irgendeinem Grund floppte, jedenfalls auf wenig Interesse bei der Tübinger Bevölkerung stieß, die demnächst diesen neuen kulturpolitischen Schwerpunkt entdecken kann.
Der praktisch orientierte Kulturkonzeptionsleser schlägt sicherheitshalber noch in der 70-seitigen Dokumentation der „Spartengespräche“ nach, die zur Kulturkonzeption führten und ebenfalls im Internet zu finden sind. Unter wachsendem Konkretionsdruck und Praxisdrang überschlägt er all die elementaren Spiegelstriche zur Rolle des Tanzes in allen Kulturen, für die Gesundheit, den Körper, für Tübingen, für die Intergenerationalität, die Inklusion und für überhaupt alles. Und auch bei den „zukünftigen Schwerpunkten“ wird wieder nur koordiniert, kommuniziert, gefördert, bereitgestellt, eingebunden und seitens der Stadt – hoppla – auch finanziell unterstützt. Von den elf Gesprächspartnern des Kulturamtes sind übrigens, das immerhin wird transparent, drei von „Inztanz“, einem Tanzzentrum, das Tanz und Wissenschaft zusammenbringen will.
Eine Kulturkonzeption ist gewiss kein Krimi, das hat der Leser bis dahin schon verstanden, sie ist vor allem eine „Verschriftlichung“, das heißt, eine Aufzählung mit ganz vielen Spiegelstrichen, ganz viel Appellcharakter und ganz vielen Wörtern, die einen ratlos zurücklassen. Jedenfalls im ganz konkreten Tübinger Fall. Diese Kulturkonzeption ist jedenfalls in einer Hinsicht perfekt: Ihre radikale Transparenz schafft maximale Verschlossenheit. Und eins ist gewiss, eine Kulturkonzeption kann man nicht tanzen
Quelle: http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Das-Kulturkonzept-182554.html
Und so sieht das dann bei anderen Kommunen aus / so geht man dort vor, wenn es um die Frage geht:
“Welche kulturellen Angebote gibt es in der Stadt und wie wird die kulturpolitische Entwicklung in den kommenden Jahren aussehen? Mit diesen und weiteren Fragestellungen beschäftigt sich die Kulturkonzeption?”
Links:
www.tuebingen.de/kulturkonzeption
www.reutlingen.de/kulturkonzeption
www.esslingen.de/,Lde/start/es_themen/kulturkonzeption.html
www.kulturkonzept-hbn-son.de/index.php
www.in-singen.de/Kulturkonzeption.69.html
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